II

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Die Stelle, an der das Haus gestanden hatte, fand er sofort, vielleicht war es die Zahl der Schritte, die von der Straßenkreu- zung noch zu gehen waren, oder irgend etwas an der Anordnung der Baumstümpfe, die einmal eine hohe und schöne Allee gebil- det hatten: irgend etwas veranlaßte ihn, plötzlich haltzumachen, nach links zu sehen, und da war es: er erkannte den Rest des Treppenhauses, stieg über die Trümmer langsam dorthin: er war zu Hause. Die Haustür war vom Luftdruck herausgeschleudert worden: ein Teil hing noch an den Angeln, schwere Scharniere mit Holzfetzen. Auch ein Teil des Aufgangs stand noch; von den Decken hingen Latten herunter. Er ging über einen Haufen Mau- erwerk weiter und schürfte am Ende des Flures am Fuße eines Schuttberges eine weiße, unbeschädigte Marmorstufe frei: eine Stufe war also noch da: offenbar die erste und letzte. Der Haufen Dreck, der sich über ihr türmte, brach zusammen, als er daran stieß. Er kratzte langsam die ganze Stufe frei und setzte sich. Es roch nach Sand und trockenem Dreck: nirgendwo war eine Brandspur zu sehen…

Es war ein schönes, herrschaftliches Haus gewesen. Unten hat- te sogar ein Hausmeister gewohnt, er blickte nach rechts, wo die Tür des Hausmeisters gewesen war, und sah einen Berg von Mauerwerk, Tapetenfetzen und zerquetschten Möbelteilen, ir- gendwo sah der staubbedeckte Fuß eines Flügels heraus: dort schien auch die Flurdecke durchgebrochen zu sein. Er stand wieder auf und kratzte an einer bestimmten Stelle des Schuttber- ges, bis er die harte dunkelbraune Linkrustatapete unter seinen Fingern fühlte, ließ den Dreck von oben nachstürzen und an sich vorbeigleiten und hatte endlich das Schild frei, ein sauberes weißes emailliertes Schild mit den schwarzen Buchstaben: Schnepplehner, Hausmeister. Er nickte nur, ging langsam zurück und setzte sich wieder, zog das Zigarettenetui aus der Tasche,

ließ es aufschnappen und zog eine Zigarette heraus, als ihm

einfiel, daß er kein Feuer hatte. Er ging langsam zum Eingang

zurück und wartete: draußen war niemand zu sehen, es war still und kühl, irgendwo krähte ein Hahn, und sehr weit entfernt, wo die Brücke über den Rhein sein mußte, hörte er schwere Wagen rollen, vielleicht Panzer…

Früher hatte es hier zu jeder Zeit des Tages und bis spät in die Nacht hinein von Menschen gewimmelt. Jetzt sah er nur eine Ratte, die aus dem Trümmerhaufen nebenan kam, langsam und

ruhig über die Schuttberge krabbelte und sich witternd zur Stra-

ße vortastete; einmal rutschte sie an einer Marmorplatte ab, die quer und steil an ihrem Weg lag, sie quiekte auf, rappelte sich wieder hoch und kroch langsam weiter. Er verlor sie aus den Augen, als sie einen Teil der Straße überquerte, auf dem kein Schutt lag, und hörte sie dann in einem umgestürzten Straßen- bahnwagen rumoren, dessen blecherner Bauch wie gequollen und geplatzt zwischen zwei gestürzten Masten lag…

Er hatte vergessen, daß er die Zigarette im Mund hielt und auf jemand wartete, der Feuer hatte…


Damals, als das Haus noch stand, war nur eine Postkarte ge- kommen. Sie kam morgens, als er noch schlief, am ersten Tage seiner Ferien, und die Mutter hatte gedacht: wird nicht so wich- tig sein. Der Briefträger hatte ihr einen ganzen Packen überge- ben: die Zeitung, ein paar Prospekte, einen Brief, eine Pensions- abrechnung, und für irgendeines dieser Teile hatte sie eine Quit- tung unterschrieben. Im Halbdunkel des Flures war sowieso alles kaum zu erkennen, auch in der Diele war es dunkel, es kam nur indirektes Licht durch die große grünliche Verglasung ober- halb der Korridortür. Die Mutter hatte den Stapel flüchtig durch- gesehen und die Postkarte in der Diele auf den Tisch geschmis- sen, ehe sie in die Küche ging: eine normale bedruckte Postkar- te, die ihr vollkommen nebensächlich erschien…

Er schlief lange an diesem Tage, es war der erste seines Le- bens, wenn man es Leben nennen konnte: bis dahin war alles Schule gewesen, Schule, Armut, Lehrlingszeit, Qual, und am Tage vorher hatte er endlich seine Gehilfenprüfung bestanden

und Urlaub genommen…

Morgens schon gegen halb neun war es schwül, es war Som- mer, Hochsommer, und die Mutter hatte die Läden vorgehängt, und als sie nun mit der Post in die Küche kam, drehte sie die Gasflamme groß, um das Wasser zum Kochen zu bringen. Der Tisch war schon gedeckt, alles sauber, ruhig und friedlich. Sie setzte sich auf die Bank und fing an, die Post durchzusehen. Draußen vom Hof her hörte sie das leichte Hämmern und das verdeckte Surren aus der Schreinerei, die im Keller des Anbaus eingerichtet war. Von vorn kam der stetige, fast ruhige Lärm des Straßenverkehrs.

Die Prospekte waren von einer Weinhandlung, die ihnen manchmal Wein geliefert hatte, als der Vater noch lebte. Sie warf sie, ohne sie anzusehen, in die große Kiste unter dem Ofen,

wo sie im Sommer Papierabfälle und Holzreste für den Winter

sammelte Während sie die Pensionsabrechnung durchsah fiel ihr die Postkarte ein, die draußen auf dem Tisch lag, und sie dachte einen Augenblick daran, aufzustehen, sie zu holen und in die Riste zu schmeißen: sie hatte eine Abneigung gegen bedruckte Postkarten – aber sie seufzte nur, denn sie hatte jetzt angefangen, die Abrechnung durchzusehen, eine komplizierte Aufstellung, von der sie nur die Endsumme begriff, ein rotgedrucktes Sümm- chen, und sie sah, daß es wieder kleiner geworden war…

Sie stand auf, um den Kaffee aufzugießen, legte die Abrech- nung neben das dicke Zeitungspaket, goß sich die Tasse voll und öffnete mit dem Daumennagel den Brief. Der Brief war von ihrem Bruder Edi. Edi schrieb, daß er nun endlich nach langen, viel zu langen Assessorjahren Studienrat geworden war. Trotz- dem enthielt sein Brief wenig Erfreuliches. Seine Beförderung hatte er mit der Versetzung in ein gottverlassenes ›Drecknest‹ erkaufen müssen. Es kotzte ihn jetzt schon an, alles kotze ihn an, schrieb er, sie wisse ja warum. Sie wußte warum. Außerdem hätten die Kinder drei Krankheiten hintereinander gehabt, Keuchhusten, Pocken und Masern, Elli sei vollkommen erledigt, dazu der Umzugsrummel, Ärger über die Versetzung, es bedeu- tete nicht einmal eine nennenswerte finanzielle Verbesserung,

weil er aus der besten nun in die schlechteste Ortsklasse ge-

kommen war. Es kotze ihn alles an, sie wisse ja warum, und sie wußte warum.

Sie legte auch diesen Brief beiseite, zögerte einen Augenblick, warf dann die Abrechnung in die Abfallkiste, und den Brief

legte sie in die Schublade. Wieder fiel ihr für einen Augenblick

die Postkarte ein, ganz flüchtig, aber sie hatte jetzt wieder Kaf- fee eingegossen, sich ein Brot gemacht und klappte das Zei- tungspaket auf. Sie las nur die Überschriften. Sie konnte dafür nicht soviel Interesse aufbringen wie die meisten Leute, die von Krieg sprachen und Rache. Seit Wochen las man schon nichts anderes auf der Titelseite als von diesem Geknalle, von Prüge- leien und von den Flüchtlingen, die die Sphäre polnischen Ha- ders verließen, um sich ins Reich zu retten…

Auf der zweiten Seite war zu lesen, daß die Butterration ver- ringert werden und die Eierrationierung aufrechterhalten bleiben müßte. Sie verstand nichts davon, auch nicht von einem Artikel,

den sie nur anfing und schnell überlas, worin begründet wurde,

daß man unmöglich seine Freiheit für Kakao und Kaffee verkau- fen könne. Dann legte sie die Zeitung weg, trank die Tasse leer und machte sich bereit, einkaufen zu gehen.

Durch die Läden flimmerte es hell und blendend, die Sonne stach schraffierte Muster an die Wand.

Als sie in der Diele die kleine weiße Karte auf dem Tisch lie- gen sah, fiel ihr wieder ein, daß sie sie hatte in die Riste werfen

wollen, aber nun hatte sie das Netz schon in der Hand, der

Schlüssel stak schon im Schloß, und sie ging hinunter.


Als sie zurückkam, schlief er immer noch, und die kleine wei- ße Postkarte lag noch da. Sie legte das Netz auf den Tisch und nahm das kleine Stück betippten Papiers in die Hand, und nun sah sie plötzlich trotz der Dunkelheit den seltsamen roten Flek- ken darauf, einen weißen Zettel mit einem roten Rechteck, und in dem roten Rechteck ein fettes schwarzes R wie eine Spinne. Ein unbestimmter Schrecken ergriff sie. Sie ließ die Karte fallen, die Sache kam ihr seltsam vor, sie hatte nicht gewußt, daß es

auch eingeschriebene Postkarten gab, eine eingeschriebene Post-

karte schien ihr etwas äußerst Verdächtiges, das Ding verursach- te ihr Angst. Sie raffte schnell ihr Netz zusammen und ging in die Küche. »Vielleicht«, dachte sie, »ist es eine Bestätigung von der Handelskammer oder irgendeiner Berufsorganisation, daß er die Prüfung bestanden hat, etwas Wichtiges, das eingeschrieben werden mußte.« Sie spürte keine Neugierde, nur Unruhe, setzte die Schüssel auf den Tisch und stieß die Läden auf, weil es plötzlich draußen dunkel wurde, und schon sah sie die ersten Tropfen auf den Hof fallen, dicke runde Tropfen, schwer und langsam fallend, fette Kleckse auf dem Asphalt. Die Schreiner standen in ihren blauen Schürzen auf dem Hof vor ihrer Werk- statt und deckten schnell Segeltuch über einen großen Fenster- rahmen. Dichter und heftiger fielen die Tropfen, prasselnd; sie hörte die Männer lachen, ehe sie hinter den staubigen Scheiben ihrer Kellerwerkstatt verschwanden.

Sie nahm die Decke vom Tisch, holte das Küchenmesser aus der Schublade, rückte sich die Schüssel zurecht und fing mit zitternden Händen an, ihren Blumenkohl zu putzen. Das große fettgedruckte R in dem roten Rechteck verursachte ihr eine Angst, die allmählich zur Übelkeit wurde; es kreiste ihr vor den Augen, sie mußte sich zusammennehmen.

Dann fing sie an zu beten. Wenn sie Angst hatte, betete sie. Zwischendurch fielen ihr in unruhiger Folge die verschiedensten Dinge ein – ihr Mann, der nun sechs Jahre tot war, – er hatte mit

verzerrtem Gesicht im Fenster gestanden, als unten der erste

große Aufmarsch vorbeikam.

Sie dachte auch an die Geburt des Jungen im Krieg, an dieses winzige, magere Bürschchen, das nie sehr kräftig geworden war…

Dann hörte sie, daß er ins Badezimmer ging. Das ohnmächtige Wühlen in ihrer Brust ließ nicht nach, dieser Klumpen aus Schmerz und Unruhe, Angst und Mißtrauen und dem Wunsch zu weinen, den sie heftig unterdrücken mußte.


Als er aus dem Badezimmer kam, war die Mutter schon dabei,

vorne im Wohnzimmer den Tisch zu decken; es war aufgeräumt

und sauber, Blumen standen auf dem Tisch, Butter, Käse, Wurst und die braune Kaffeekanne standen dort, die gelbe Kaffeemütze und eine Dose Milch, und er sah auf seinem Teller eine große Blechschachtel mit Zigaretten stehen. Er gab der Mutter einen Kuß und spürte, daß sie zitterte; er blickte sie erschreckt und erstaunt an, als sie ganz plötzlich anfing zu weinen. Vielleicht weinte sie vor Freude. Sie hielt seine Hand fest und sagte leise, immer noch weinend: »Du mußt nicht böse sein, ich wollte es so nett machen.« Sie zeigte auf den Tisch, weinte heftiger, brach dann in ein wildes Schluchzen aus, und er sah ihr breites schönes Gesicht ganz in Tränen schwimmen, er wußte nicht, was er tun sollte, er sagte stammelnd: »Mein Gott, Mutter, es ist doch alles so schön.«

»Ja«, sagte er noch einmal. Sie blickte ihn prüfend an und ver- suchte zu lächeln.

»Wirklich«, sagte er, bevor er ins Schlafzimmer ging. Er zog schnell ein frisches Hemd an, knöpfte die rötliche Krawatte und

eilte wieder nach vorn. Die Mutter saß schon da, sie hatte die Schürze abgelegt, ihre Tasse aus der Küche mitgebracht und

lächelte ihm zu.

Er setzte sich und sagte: »Ich habe wunderbar geschlafen.«

Sie fand, daß er wirklich frischer aussah, sie nahm die Mütze von der Kanne und goß ihm ein und gab gleich einen dicken Strahl Büchsenmilch hinterher: »Hast du nicht zu lange gele-

sen?«

»Nein, nein«, sagte er lächelnd, »ich war müde gestern, zu müde.« Er öffnete die Schachtel, zündete eine Zigarette an, be- gann langsam den Kaffee umzurühren und blickte der Mutter ins Gesicht: »Es ist alles so schön«, sagte er.

Sie sagte, ohne den Ausdruck ihres Gesichts zu verändern: »Es ist Post gekommen.« Er sah, daß ihre Mundwinkel zitterten. Sie biß sich auf die Lippen, sie konnte nicht sprechen, so entstand ein trockenes sehr tiefes Schluchzen und er wußte plötzlich, daß etwas geschehen war oder geschehen würde. Er wußte es. Die Post hatte das alles verursacht, irgend etwas mußte mit der Post

sein. Er senkte den Blick, rührte in seiner Tasse, rauchte mit

heftigeren Zügen und trank zwischendurch. Man mußte ihr Zeit lassen, sie wollte nicht weinen, mußte aber sprechen, und man mußte ihr Zeit lassen, diesen langen und sehr trockenen Schluchzer erst ganz auszuholen, ehe sie weitersprechen konnte. Irgend etwas war mit der Post nicht in Ordnung. Er würde nie- mals im Leben dieses Schluchzen vergessen, in dem alles lag, das ganze Entsetzen, von dem keiner von ihnen damals etwas wissen konnte. Es schnitt, dieses Schluchzen. Die Mutter schluchzte, sie schluchzte nur ein einziges Mal, sehr lang und sehr tief, und er hielt immer noch den Blick gesenkt, sah nur die Oberfläche seiner Kaffeetasse, in der sich die Büchsenmilch nun zu einem hellen sehr gleichmäßigen sanften Braun verteilt hatte, er sah die Spitze seiner Zigarette, sah die Asche zittern, grau und silbern, und endlich spürte er, daß er aufsehen konnte.

»Ja«, sagte sie leise, »Onkel Edi hat geschrieben. Er ist Studi- enrat geworden, ist aber auch versetzt worden. Er schreibt, es kotzt ihn an.«

»Ja, ja«, sagte er, »jeden normalen Menschen kotzt es an.«

Sie nickte. »Und eine Pensionsabrechnung«, sagte sie, »es gibt wieder weniger.« Er legte seine Hand auf ihre, die klein, breit und verbraucht auf dem blütenweißen Tischtuch lag. Seine Be- rührung löste eine neue Folge tiefer, schneidender Schluchzer aus. Er nahm die Hand wieder weg und behielt die Erinnerung, daß die Hand der Mutter warm und rauh war. Er hielt den Blick gesenkt, bis die Folge schneidender Seufzer, verhaltener Tränen vorüber war. Er wartete. Er dachte: das alles ist es nicht. Onkel Edi und die Pensionsabrechnung bringen sie nicht so vollkom- men aus der Fassung. Es mußte etwas ganz anderes sein, und plötzlich fiel ihm ein, daß es etwas sein mußte, das ihn betraf, und er spürte, daß er blaß wurde. Es gab wohl nichts, was die Mutter so aus der Fassung bringen würde als etwas, was ihn betraf. Er blickte einfach auf. Die Mutter hatte den Mund fest zugekniffen, ihre Augen waren naß, und sie preßte sich jetzt die Worte ab, hart und knapp öffnete sie den Mund. Sie sagte stok- kend: »Es ist eine Karte für dich gekommen, in der Diele – liegt

sie…«

Er stellte sofort die Tasse ab, stand auf und ging in die Diele – er sah die Karte schon von weitem, sie war weiß und vollkom- men normal, eine reichsgenormte Karte 15 mal 10 Zentimeter. Sie lag unschuldig auf dem Tisch neben der dunklen Vase mit Fichtenzweigen. Er ging sehr schnell darauf zu und nahm sie in die Hand, las die Adresse, sah den aufgeklebten weiß-rot- schwarzen Zettel, mit dem roten Rechteck, darin das sehr fette schwarze R, dann drehte er die Karte um, las zuerst nur die Un- terschrift, sie war unleserlich über ein sehr langes Wort ge- schrieben, das Wehrbezirkskommando hieß. Darunter stand getippt: Major.

Er war ganz still, und nichts hatte sich geändert. Es war nur eine Postkarte gekommen, eine ganz normale Postkarte, und das einzige handgeschriebene Wort war dieser unleserliche Kritzler irgendeines Majors. Das grünliche Licht aus dem Oberteil der Korridortür ließ alles wie in einem Aquarium schwebend er- scheinen… die Vase stand noch da, sein Mantel hing an der Garderobe, Mutters Mantel hing da, ihr Hut daneben, Mutters Sonntagshut mit dem zierlichen weißen Schleier oben, jener Hut, den sie sonntags in der Kirche trug, wenn sie neben ihm kniete, still betend, während er langsam die Seiten des Meßbuches um- schlug. Es war alles in Ordnung, draußen durch die offene Kü- chentür hörte er das Lachen der Schreiner im Hof, der Himmel war wieder klar und heiter, das Gewitter vorüber, es war nur eine Postkarte gekommen, flüchtig unterkritzelt von irgendeinem Major, der sonntags vielleicht nicht weit von ihm in der Kirche kniete, seine Frau beschlief, seine Kinder zu anständigen deut- schen Menschen erzog und werktags stoßweise Postkarten un- terschrieb. Es war alles sehr harmlos…

Er wußte nicht, wie lange er dort mit der Postkarte gestanden hatte, aber als er zurückkam, saß die Mutter da und weinte. Sie hatte einen Arm aufgestützt, hielt den zuckenden Kopf in dieser aufgestützten Hand, die andere lag untätig, wie nicht zu ihr ge- hörend, arm, breit und verbraucht im Schoß.

Er ging auf sie zu, hob ihren Kopf hoch und versuchte, sie an-

zusehen, aber er ließ sofort davon ab. Das Gesicht der Mutter

war verzerrt, fremd, er hatte es noch nie gesehen, ein Gesicht, das ihn erschreckte, zu dem er keinen Zutritt hatte und keinen verlangen durfte…

Er setzte sich schweigend, schlürfte am Kaffee und nahm eine Zigarette, ließ sie aber plötzlich fallen und starrte geradeaus.

Dann sagte eine Stimme hinter der aufgestützten Hand her: »Iß doch was…«

»Du mußt nicht böse sein.«

Er goß Kaffee ein, tat Milch hinzu und ließ zwei Stücke Zuk- ker hineinfallen, dann zündete er die Zigarette an, nahm die Karte aus der Tasche und las leise vor: »Sie haben sich am vier- ten Juli, morgens um sieben Uhr zu einer achtwöchigen Übung in der Bismarckkaserne in Adenbrück einzufinden.«

»Mein Gott«, sagte er laut, »sei doch vernünftig, Mutter, acht Wochen.«

Sie nickte.

»Das mußte kommen, ich wußte ja, daß ich zu einer achtwö- chigen Übung wegmuß.«

»Ja, ja«, sagte sie. »Acht Wochen.«

Sie wußten beide, daß sie logen; sie logen, ohne zu wissen, warum sie logen. Sie konnten es nicht wissen, aber sie logen und

wußten es. Sie wußten, daß er nicht nur für acht Wochen weg-

ging.

Sie sagte wieder: »Iß doch was.«

Er nahm eine Scheibe Brot, schmierte Butter darüber und legte Wurst darauf und fing an, sehr langsam und ohne Appetit zu kauen.

»Gib mir die Karte«, sagte die Mutter.

Er gab sie ihr.

Ihr Gesicht hatte einen seltsamen Ausdruck, sie war sehr ruhig, sie blickte die Karte genau an, las sie leise durch.

»Was ist heute?« fragte sie, als sie die Karte auf den Tisch leg- te.

»Donnerstag«, sagte er.

»Nein«, sagte sie, »der wievielte?«

»Der 3.«, sagte er.

In diesem Augenblick erst begriff er, was die Frage bedeutete. Sie bedeutete, daß er würde abfahren müssen und zwar an die- sem Tage noch, anderntags um sieben Uhr mußte er dreihundert Kilometer weiter nördlich sein, in der Kaserne einer fremden Stadt…

Er legte die angebissene Brotscheibe zurück, es hatte keinen Sinn, Appetit vorzutäuschen. Die Mutter bedeckte wieder ihr Gesicht und fing an, heftig und merkwürdig lautlos zu weinen… Er ging in sein Zimmer und packte seine Aktentasche. Er knüllte ein Hemd hinein, eine Unterhose und Socken, Schreib- papier, dann räumte er die Schubladen aus und warf den Inhalt, ohne ihn anzusehen, in den Ofen, riß ein Blatt aus einem Heft, faltete es zusammen, zündete es an und hielt es unten an den Papierhaufen: Es dampfte erst nur dick und weißlich, langsam fraß sich das Feuer durch, bis es lodernd und summend oben aus dem Deckel schlug, eine schmale und heftige Flamme, in schwarzen Qualm getaucht. Während er alle Schubladen und Fächer noch einmal durchwühlte, ertappte er sich dabei, daß er dachte: Weg, nur schnell weg, weg von der Mutter, dem einzi- gen Menschen, von dem er hätte sagen können, daß er ihn lieb-

te…

Er hörte, daß sie mit dem Tablett in die Küche zurückging, er überquerte die Diele, klopfte flüchtig an die Milchglasscheibe und rief hinein: »Ich bin zum Bahnhof, bin gleich wieder da.«

Sie antwortete nicht gleich, er wartete, und er spürte die kleine

weiße Postkarte in seiner Hosentasche. Dann rief die Mutter:

»Es ist gut, komm bald zurück. Auf Wiedersehen…«

»Auf Wiedersehen«, rief er, dann stand er noch einen Augen- blick still und ging hinaus…

Als er nach Hause kam, war es halb eins, und das Essen war fertig. Die Mutter trug Schüsseln, Bestecke und Teller ins

Wohnzimmer…


Jetzt in der Erinnerung erschien ihm dieser erste qualvolle Nachmittag schlimmer als der ganze Krieg. Sechs Stunden blieb

er noch zu Hause. Immer wieder versuchte die Mutter, ihm Din-

ge aufzudrängen, von denen sie glaubte, daß er sie unbedingt gebrauchen würde; besonders weiche Frottiertücher, Pakete mit Eßwaren, Zigaretten, Seife. Und die ganze Zeit über weinte sie. Er selbst rauchte, ordnete Bücher; wieder mußte der Tisch ge- deckt, Brot, Butter, Marmelade. Gebäck vorne ins Zimmer ge- tragen und Kaffee aufgebrüht werden.

Dann, nach dem Kaffee, als die Sonne schon hinter dem Haus stand und vorne wohltuender Dämmer herrschte, ging er plötz- lich in sein Zimmer, klemmte die Tasche unter den Arm und kam in die Diele hinaus…

»Was ist?« fragte die Mutter, »du mußt…«

»Ja«, sagte er, »ich muß gehen«, obwohl sein Zug erst in fünf Stunden fuhr.

Er setzte die Tasche ab und umarmte die Mutter mit einer ver- zweifelten Zärtlichkeit. Sie entdeckte, während sie ihre Hände über seine Hüften legte, die Postkarte in der Tasche und zog sie

heraus. Plötzlich war sie ruhig, und auch das Schluchzen hörte

auf. Die Postkarte in ihrer Hand sah sehr harmlos aus, das einzig Menschliche daran war der Krakel des Majors, und auch dieser hätte ebensogut von einer Maschine geschrieben sein können, von einer Majorsunterschriftmaschine… Gefährlich war nur das aufgeklebte weißleuchtende Rechteck, hellrot abgesetzt mit einem schwarzen großen R darin, ein winziges Fetzchen Papier, wie sie an jedem Postamt in ganzen Rollen täglich verklebt wur- den. Aber unter dem R entdeckte er jetzt eine Nummer; es war seine Nummer, das einzige, was die Karte von den anderen Kar- ten unterschied, die Nummer 846, und er wußte jetzt, daß alles in Ordnung war, es konnte nichts passieren, in irgendeinem Postamt stand diese Nummer neben einer Spalte, die seinen Namen trug. Es war seine Nummer, und er konnte ihr nicht ent- fliehen, er mußte diesem fettgedruckten R nachrennen, er konnte nicht fliehen…

Er war die Einschreibenummer 846. sonst nichts mehr, und diese kleine Weiße Postkarte, dieses nichtige Stück schlechten billigsten Pappedeckels, von dem das Tausend, sogar bedruckt,

höchstens drei Mark kostete und das portofrei ins Haus ge-

schickt wurde, das nur den Kritzler eines Majors bedeutete, den Handgriff eines Schreibers in eine Kartothek und den weiteren Kritzler eines Postbeamten in seinem Buch…

Die Mutter war ganz ruhig, als er ging, sie schob die Postkarte in seine Tasche zurück, küßte ihn und sagte leise: »Gott segne dich.«


Er ging, sein Zug fuhr erst um Mitternacht, und es war gerade sieben. Er wußte, daß sie ihm nachblickte, und wandte sich manchmal, während er zur Straßenbahn ging, um zu winken.

Fünf Stunden vor der Abfahrt des Zuges war er am Bahnhof. Ein paarmal lief er zwischen den Schaltern herum, studierte noch einmal die Abfahrtstafeln. Es war alles normal, die Men-

schen kamen aus den Ferien zurück oder fuhren in die Ferien,

die meisten lachten, sie waren glücklich, braungebrannt, heiter und sorglos, es war warm und schön: Ferienwetter…

Er lief wieder hinaus, stieg in eine Straßenbahn, die ihn hätte nach Hause bringen können, sprang unterwegs ab und fuhr wie- der zum Bahnhof zurück. Auf der Bahnhofsuhr stellte er fest,

daß erst zwanzig Minuten vergangen waren. Wieder ging er eine

Zeitlang rauchend zwischen den Leuten herum, stieg dann wie- der in eine Bahn, irgendeine, sprang wieder ab und fuhr zum Bahnhof zurück, als hätte er gewußt, daß er acht Jahre auf Bahn- höfen sein würde, es zog ihn magnetisch zum Bahnhof…

Er ging in den Wartesaal, trank Bier, wischte den Schweiß ab, und plötzlich fiel ihm die kleine Kollegin ein, die er ein paarmal nach Hause gebracht hatte; er suchte in seinem Notizbuch die

Telephonnummer, rannte zum Automaten, warf Geld ein und

wählte, aber als sich am anderen Ende eine Stimme meldete, brachte er kein Wort heraus und hing wieder ein. Er warf noch einmal Geld ein und wählte wieder, wieder kam diese unbekann- te Stimme, die Hallo sagte und einen Namen nannte, und er nahm seinen ganzen Mut zusammen und stammelte: »Kann ich Fräulein Wegmann sprechen; hier Schnitzler…«

»Augenblick«, sagte die Stimme… und er hörte durch die Mu-

schel das Wimmern eines Säuglings, Tanzmusik und eine

schimpfende Männerstimme, eine Tür wurde geknallt. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, dann hörte er ihre Stimme, sie sagte »Ja?«, und er stammelte: »Ich bin es… Hans… kann ich Sie noch einmal sprechen, ich muß weg… zum Kommiß… heu- te noch…«

Er merkte, daß sie sehr erstaunt war, und sie sagte: »Ja… aber wann und wo…«

»Am Bahnhof«, sagte er, »sofort… an der Sperre…«


Sie war sehr schnell da, eine zierliche kleine Blondine mit ei- nem runden, sehr roten Mund und einer hübschen Nase. Zur Begrüßung sagte sie lächelnd: »Das ist aber eine Überraschung.«

»Was möchten Sie, was sollen wir tun?«

»Wie lange ist noch Zeit?«

»Bis zwölf.«

»Gehen wir ins Kino«, sagte sie.

Sie gingen in der Nähe des Bahnhofs ins Kino, in ein schmut- ziges kleines Kino, das man über einen Hinterhof betreten muß- te, und als sie im Dunkeln nebeneinander saßen, wußte er plötz-

lich, daß er ihre Hände nehmen und festhalten mußte, solange

der Film lief. Die Luft war heiß, es roch dumpf, und die meisten Sitze waren leer, es war ihm irgendwie widerwärtig, wie selbst- verständlich sie ihm ihre Hand ließ, aber er hielt sie zwei Stun- den lang fest, fast krampfhaft, und als sie aus dem Kino kamen, war es endlich dunkel, und es regnete…

Als er mit ihr in den Park einbog, klammerte er sich rechts an seine Aktentasche und drückte sie mit dem linken Arm an sich, sie gab wieder nach: er spürte die Wärme ihres duftenden klei- nen Körpers, sog den Geruch ihrer feuchten Haare ein und küßte sie, auf den Hals, auf die Wangen, und er erschrak, als er ihren weichen Mund mit den Lippen berührte…

Ihre Hände hatte sie fest und ängstlich auf seinem Rücken ver- klammert; die Aktentasche war ihm entglitten und er wurde sich plötzlich bewußt, während er sie küßte, daß er die Bäume und Sträucher zu beiden Seiten des Weges zu erkennen versuchte: er

sah den silbrig feuchten Weg, der von Regen glänzte, die trie-

fenden Sträucher und schwarzen Baumstämme, und den Him- mel, auf dem schwere Wolken hastig nach Osten jagten…

Sie gingen ein paarmal die Wege auf und ab, küßten sich, und in gewissen Augenblicken glaubte er Zärtlichkeit für sie zu emp-

finden, etwas wie Mitleid, vielleicht auch Liebe, er wußte nicht;

er zögerte ihre Rückkehr in beleuchtete Straßen hinaus, bis es rings um den Bahnhof so still wurde, daß er glaubte, es müsse Zeit sein…

Er zeigte an der Sperre seine Postkarte vor, ließ ihre Bahn- steigkarte lochen und war froh, daß der Zug schon dampfend bereit stand in der großen leeren Halle; er küßte sie noch einmal, stieg ein. Als er sich vorbeugte, um zu winken, hatte er Angst, sie würde weinen, aber sie lächelte ihm zu, winkte lange und heftig, und er fühlte, daß er erleichtert war, weil sie nicht wein- te…


Er kam gegen sechs in der fremden Stadt an; Milchwagen standen vor den Türen und Tüten mit Brötchen wurden von eiligen Bäckerjungen vor die Stufen gesetzt – er sah die Jungen mit mehlverstaubten Gesichtern, blasse und doch heitere Ge- spenster des frühen Morgens. Aus einer Bar taumelten ein paar Männer und ein Soldat. Er hatte keine Lust, jemand nach dem Weg zu fragen, und ging hinter dem Soldaten her; er blieb ste- hen, als dieser an der Straßenbahnstation hielt und sich zwischen die stummen Arbeiter stellte, die ihn gleichgültig musterten…

Ihm war übel; irgendwo hatte er nachts laue Fleischbrühe ge- trunken und zähe Brötchen dazu gegessen, er war müde und fühlte sich schmutzig, und als die Bahn kam, folgte er wieder dem Soldaten und stellte sich neben ihn auf die Plattform. Er sah jetzt, daß es ein Unteroffizier oder Feldwebel sein mußte; das Gesicht des Soldaten war rot gedunsen und ausdruckslos; unter der steifen Mütze quoll dickes blondes Haar heraus; andere Sol- daten stiegen ein, die ihn grüßten…

Die Straßen belebten sich, Wagen tauchten auf, Fahrräder, und die Plattform füllte sich mit pfeiferauchenden Arbeitern, die sich

stumm irgendeiner Station entgegenschaukeln ließen; Schulkin-

der gingen über die Straße, schwere Ranzen auf den schmalen Schultern – und die Bahn fuhr immer weiter, durch Alleen, Stra- ßen, leerte sich langsam, bis zuletzt nur noch die Soldaten drin waren…

Endlich kam die Endstation zwischen abgemähten Weizenfel- dern und einer großen Gartenwirtschaft und alle stiegen aus, und er folgte dem Feldwebel langsam, während die anderen Soldaten

anfingen zu laufen.

Sie gingen an einem unendlich langen Zaun vorbei, der graue gleichförmige Gebäude umschloß: drinnen hörte er Pfeifen und Brüllen und sah Gesichter an den vielen Fenstern: lustlose graue Gesichter; und dann kam eine Lücke in dieser dichten Reihe Kästen, und der schwarzweißrote Schlagbaum hob sich vor dem Unteroffizier oder Feldwebel. Der Posten grinste, dann wurde das Gesicht des Postens ernster und spöttisch, auch vor ihm hob sich der schwarzweißrote Schlagbaum und er war Soldat…


Plötzlich hörte er in dieser unheimlichen Stille Schritte, er horchte auf und nahm die Zigarette aus dem Mund: sie war un- ten gelblich und feucht geworden; er hielt sie jetzt in der Hand und verfolgte die Schritte: Sie kamen von rechts hinter ihm, waren manchmal weniger deutlich zu hören, dann rollten Steine, und bald hörte er wieder den festen und regelmäßigen Schritt. Endlich tauchte der Mann an der Straßenkreuzung rechts auf: ein Arbeiter mit einer Ballonmütze, die Tasche unter den Arm ge- klemmt – ruhig ging er auf den umgestürzten Straßenbahnwag- gon zu. Es schien unglaublich, fast widerwärtig, daß es hier noch Menschen geben sollte, die zur Arbeit gingen, pünktlich und regelmäßig, die Tasche unter dem Arm…

Er kletterte bis zum Vorgartengitter und wartete.

Der Mann hatte ihn jetzt gesehen, blieb stehen und kam dann mit langsamen Schritten heran; er ging ihm ein paar Schritte entgegen und sagte leise: »Morgen…«

»Morgen«, sagte der Mann vorsichtig, dann blickte er auf die

Zigarette und sagte: »Feuer?«

»Ja«, sagte er…

Der Mann kramte umständlich in seiner Hosentasche, er sah dessen graues Haar, die buschigen, fast weißen Augenbrauen und die dicke freundliche Nase; dann schnappte das Feuerzeug vor seinen Augen und eine rußige Flamme sengte die Zigarette dunkel an…

»Danke«, sagte er, zog das Etui heraus, öffnete es und hielt es dem Mann hin. Der Mann sah ihn erstaunt an, zögernd…

»Bitte«, sagte er, »los…«

Und er beobachtete die zwei groben Finger des Mannes, die sich zögernd spreizten und eine Zigarette nahmen…

Der Mann steckte die Zigarette hinters Ohr, sagte leise: »Dan- ke«, und ging…

Hans blieb rauchend am Vorgartengitter stehen: Er hatte sich angelehnt und wartete – er wußte nicht worauf–, er sah dem

Mann lange nach, der sich weiterbewegte, oft hinter den Schutt- halden verschwand und langsam steigend wieder auftauchte,

dann verschwand er weit hinten in der Allee, wo die Bäume

noch heil zu sein schienen; sie schimmerten grün, es war Mai…